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• Wer hat Angst vor Virginia Woolf? • – mein17424. Tag
Mittwoch, 3. März 2010
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o hatte es, auf englisch natürlich, irgendjemand mit einem Stück Seife auf den Spiegel einer New Yorker Bar geschrieben. Das war mitten in den wilden 50er-Jahren, Graffitis, Petticoats und Rock’n’Roll kamen in Mode, und Edward Albee, der sich im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village mit allerlei Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, trank just an jenem Abend in besagter Bar ein Bier. Das Seifengraffiti, das er im Spiegel nächtens las, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Doch warum es ihm begegnet war, wurde ihm erst Jahre später bewusst. Er hatte ein Theaterstück geschrieben, für das er einen Titel benötigte. Er dachte an den Songtitel „Who’s Afraid of the Big, Bad Wolf?” aus dem Disney-Film „Three Little Pigs” (1933), doch bekam er keine Genehmigung.

»Was tun? – Das Seifengraffiti! Die Rettung in der Not . . .«

Immerhin klang „Woolf” genauso wie „Wolf”, und wer konnte es schon wissen, vielleicht verhalf ihm der bekannte Name gar zu einem Popularitätsschub. Und so ging im Jahr 1962 ein Theaterstück mit dem Titel „Who’s afraid of Virginia Woolf?” über die Bühne. Es wurde Edward Albees Erstlingserfolg, und zugleich sein internationaler Durchbruch als Theaterschriftsteller; darüberhinaus provozierte sein Stück einen der großen Skandale der Theatergeschichte.

Und das alles wegen einem Stückchen Seife? Nein, nein, Seifenkomödien mit bitterem Beigeschmack gibt es ja schon sehr viel länger, doch so erbarmungslos wie Albee hatte noch kein Dramatiker zuvor dem Publikum den Spiegel ins Gesicht gehalten. Mit kühl distanziertem Blick entlarvte er die trügerische Fassade der amerikanischen Upperclass – dessen ureigenstes Kind er als Adoptivzögling eines steinreichen Theaterunternehmers war.

Zum Titel äußerte sich Albee einmal folgendermaßen: „Natürlich bedeutet »Who’s afraid of Virginia Woolf?« – »Who’s afraid of the big bad wolf?«: Wer hat Angst, ein Leben ohne falsche Illusionen zu leben. Und es erschien mir wie ein typischer, intellektueller Collegewitz.”

Kein Wunder, dass es zwei Professoren samt ihren Gattinnen sind, die zu nächtlicher Stunde, mit vom Alkohol entblößter Zunge, ihre zerrütteten Ehen demontieren, bis zum bitteren Ende.

Virginia Woolf suchen wir übrigens in Albees Theaterstück vergeblich. Und doch ist es aufschlussreich, dass sie als Namensgeberin Pate stand, entschlossen und aufrecht, wie einst Jeanne d’Arc, denn sie lebte ihr Leben ohne falsche Illusionen. Immer mehr drängt ihre Bedeutung als Schriftstellerin ins Bewusstsein der Menschen, doch wenige wissen, wie die unerbittliche Suche nach dem rechten Wort ihren Lebensalltag bestimmte:

„How can we combine the old words in new orders so that they survive, so that they create beauty, so that they tell the truth?”

Diese Fragestellung peinigte und marterte sie zu jeder Stunde — doch die Gewissenhaftigkeit, mit der sie zu Werke ging, nahm mit den Jahren noch zu. Berufen war sie, ihrem Genius etwas noch nie Dagewesenes abzuringen, und so diente sie ihm demütig bis zur letzten, erschütternden Konsequenz. Was macht indess ihr schriftstellerisches Werk so außergewöhnlich?

Es macht den „Bewusstseinsstrom unserer Gedanken” in vollendeter Weise sichtbar. In einem ihrer über eintausend Essays schildert sie die Wesensmerkmale dieses nie enden wollenden Bewusstseinsstroms:

„Look within and life, it seems, is very far from being »like this«. Examine for a moment an ordinary mind on an ordinary day. The mind receives a myriad impressions — trivial, fantastic, evanescent, or engraved with the sharpness of steel. From all sides they come, an incessant shower of innumerable atoms . .  Life is not a series of gig lamps symmetrically arranged; life is a luminous halo, a semi-transparent envelope surrounding us from the beginning of consciousness to the end. Is it not the task of the novelist to convey this varying, this unknown and uncircumscribed spirit, whatever aberration or complexity it may display, with as little mixture of the alien and external as possible?”

Elastizität des Geistes bedingt einen elastischen Körper.
„Geist überwindet Materie”, so nennt sich bezeichnenderweise diese Yogaübung.

„Schaue nach innen, so erscheint uns das Leben ganz anders, als wir es für gewöhnlich wahrnehmen. Studiere nur für einen Augenblick ein gewöhnliches Bewusstsein an einem gewöhnlichen Tag. Empfängt es nicht Myriaden von Eindrücken — triviale, fantastische, flüchtige, oder welche, die sich einprägen wie von einem scharfen Stahl gestochen? Sie strömen von allen Seiten auf uns ein, ein unaufhörlicher Schauer unzähliger Atome . . . Leben ist nicht eine symmetrisch angeordnete Reihe von Einspännerlampen; Leben ist ein strahlender Lichtschein, eine durchscheinende Hülle, die uns umgibt, solange wir ein Bewusstsein tragen. Ist es nicht die Aufgabe des Romanschriftstellers, diesen stets changierenden, diesen unbekannten und nicht fassbaren Geist, so zerstreut oder vielschichtig er sich auch zeigen mag, mit möglichst wenig Zutaten an Fremdem und Äußerlichem zu vermitteln?”

Sie hat es getan, unermüdlich, in höchster Konzentration und Verdichtung des Geistes. Wie schwierig diese Aufgabe ist, mag der erahnen, der nur einmal versucht, eine Minute lang wach und konzentriert jeglichem Gedanken, der durch unser Bewusstsein strömt, zu folgen, und ihn hernach penibel zu protokollieren – auf Papier, versteht sich. Da gerät man leicht ins Schwitzen.

Doch was Virginia Woolf zu höchster Meisterschaft gebracht hat, das soll auch uns zum Ansporn dienen. Denn wie es unserer Natur entspricht, sind wir als geistige Wesen hier auf der Erde um zu lernen, bewusst mit unseren Gedanken umzugehen; sie zu steuern und zu lenken. Das sollten wir bedenken: die Lebensenergie, die uns erhält und ständig erneuert, verdanken wir letztendlich nur der unfassbaren Konzentrationsfähigkeit unseres Schöpfers. Und da wir göttlichen Ursprungs sind, ist diese Fähigkeit zur Konzentration in jedem Menschen angelegt.

Diese Konzentrationsfähigkeit zu entwickeln, ist unabdingbare Voraussetzung, um höheren geistigen Aufgaben gewachsen zu sein. Sie zu üben, dafür ist unsere Erde geplant und erschaffen worden. Wir gehen die Lebensstufen aufwärts, vom unbewussten Sich-treiben-lassen auf den Wogen unserer Gedanken, über das wache Begleiten des fließenden Bewusstseinsstroms, bis hin zur Beherrschung unserer Gedanken durch Wunschkraft und geistiger Ausrichtung auf ein konkretes Lebensziel hin. Zielgerichtetheit ist ein entscheidendes Merkmal jeglicher positiver Entwicklung und Entfaltung. Und auf ein sinnvolles Lebensziel wirklich wach und bewusst zuzuschreiten, das benennen wir gerne mit der fernöstlichen Lebensweisheit: „Der Weg ist das Ziel”.

Übung macht den Meister. So war das immer schon. Eine Anekdote aus dem ZEN-Buddhismus erzählt von einem Schüler, der nach sieben Jahren des Meditierens – an einem regnerischen Tag – erwartungsfroh seinen Meister aufsucht, um ihn zu fragen, ob er jetzt erleuchtet sei. Der Meister lächelt, und stellt den Lehrling auf die Probe: „Wie herum hast du deinen Regenschirm abgestellt, und auf welcher Seite der Tür?” – irritiert hält der Schüler inne, und antwortet verlegen: „Aber Meister, versteht doch, mein Herz war voller Verlangen, Euch zu sprechen . . . ” – der Meister schickt den Schüler zur Tür hinaus, nicht ohne ihm einen Ratschlag mit auf den Weg zu geben: „Gehe nach Hause und meditiere weitere sieben Jahre, und dann komme erneut!” Ob es an jenem Tag wohl wieder regnen wird?

Ist es verwunderlich, dass die Buchstaben des ZEN in dem Begriff KonZENtration zen-triert sind? Doch keine Bange, wir müssen nun nicht alle gleich zu ZEN-Mönchen werden. Konzentration heißt eigentlich nichts anderes, als für das Hier und Jetzt wach zu werden, und es vollkommen bewusst zu erleben. Unbewusstheit und Tagtraum sind identisch. Angst und Sorgen – was wird morgen, böse Schwestern – was war gestern: das alles gehört zur Tagträumerei und spielt sich in der virtuellen Zukunft oder in der Vergangenheit ab. Und unser Leben? Dem begegnen wir nur und ausschließlich in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Und so begegnen wir im Schüler, der seinen Regenschirm unbedacht in irgendeine Ecke stellt, und mit den Gedanken längst beim Meister ist („was wird er sagen?”), unversehens uns selbst. Ach ja, der liebe Alltag! Hier wartet auf uns die beste Konzentrationsschulung, die es gibt. Und kostenlos ist sie noch dazu.

An den kleinen Aufgaben des Alltags erkennen wir am deutlichsten, wie uns der Tagtraum gefangen hält. Einige Beispiele, die mir in ähnlicher Form immer wieder mal passieren:

  • Samstag, wie gewöhnlich Einkauf-, Putz-, und Aufräumtag. Ich stelle alles vor die Tür, was zu entsorgen oder wegzuräumen ist; der volle Papierkorb, das Gefäß mit dem Biomüll, die Satteltaschen fürs Fahrrad. Anschließend habe ich einen Spaziergang geplant; da ich aber nicht weiß, ob es draußen kalt ist, lege ich vorsorglich meine Wollmütze oben auf das Papier im Papierkorb. Schuhe anziehen, und los gehts! Die Treppe hinauf zu den Mülltonnen, das Gefäß mit dem Biomüll entleeren, dann die Satteltaschen aufs Fahrrad stülpen, schließlich den Papierkorb ausschütten. Papiertonne verschließen, fertig! Jetzt kann ich marschieren. Es ist doch kälter, als ich dachte. Wo ist meine Wollmütze? Ach du grüne Neue! Jetzt darf ich den Inhalt der großen Papiertonne auf den Gehsteig ausbreiten, und im papiernen Meer nach meiner Mütze fischen . . .
  • Kurz vor dem Frühstück: ich ziehe mich an, zuletzt das Hemd, das zugeknöpft sein will. Routinierte Handgriffe, husch, husch. Die Gedanken sind schon am Schreibtisch. Mit flüchtigem Blick streife ich das Hemd. Irgendetwas klemmt. Der letzte Knopf, der will nicht recht. Ich schau genauer hin. Aha! Er findet kein freies Knopfloch mehr. Fehlanzeige. Alles wieder aufknöpfen, und noch einmal das ganze Spiel von vorne.
  • Das Toilettenpapier ist aus. Getreide muss nachgefüllt werden. Tiefgefrorene Früchte müssen aus der Tiefkühltruhe geholt werden, damit sie rechtzeitig auftauen. Drei Aufgaben, die mich in den Keller führen. Dort lagert der Nachschub, dort steht die Tiefkühltruhe. Eins, zwei, drei, alles erledigt! So denke ich. Als ich einige Zeit später auf der Toilette sitze, bemerke ich, dass ich im Keller nicht bis drei gezählt habe. Das fehlende Toilettenpapier lässt grüßen.
  • Erinnerungen an meine Kindheit: Hurra, wir fahren in die Ferien! An die Nordsee geht’s, wie manches Jahr. Das Auto rollt die Straße hinunter, mein Vater sagt zu meiner Mutter: „Hast du den Herd ausgeschaltet?” — meine Mutter kontert: „Hast du die Haustür abgeschlossen?” — so sicher sind sich beide nicht. Sorgfalt ist erste Bürgerpflicht. Und so kehren wir um, die Mutter kontrolliert den Herd, der Vater bekommt die Gelegenheit, die Haustür fest zu schließen, und zum zweiten Mal den Schlüssel herumzudrehen.

So lernt man Konzentration. Doppelte Handgriffe, kleine Missgeschicke, Bücklinge, wenn etwas hinunterfällt. Es lohnt sich, einmal zu zählen, wieviele solcher Irritationen wir in der ersten Morgenstunde nach dem Aufstehen erleben. Noch besser ist es, wenn wir dies einige Tage lang tun, und uns bemühen, die Anzahl mehr und mehr zu reduzieren, bis wir die magische „Null” erreicht haben. Glückwunsch! Dann sind wir aufgewacht. Willkommen in der Gegenwart. Das wahre Leben heißt mit einem Lächeln uns willkommen.

Wir lassen uns nun hoffentlich nicht mehr wahllos dahintreiben, vom trägen Bewusstseinsstrom unserer Gedanken, oder? Lebendige Fische schwimmen stromaufwärts, und das stärkt sie ungemein.

Hat jetzt noch irgendjemand Angst vor Virginia Woolf? Nein, wirklich, wir brauchen uns vor Virginia nicht zu fürchten. Und wenn schon, dann darf’s Ehrfurcht sein. Die tut uns allen gut. Hingegen alle Ängste, die uns im Tagtraum binden, weichen der Liebe und dem Licht . . . . . wo Virginias Feder spricht . . .

Empfehlung für Menschen mit wenig Zeit zum Lesen, aber mit viel Sehnsucht nach Muse im Herzen: „Das Mal an der Wand: Gesammelte Kurzprosa”, erschienen im Fischer-Verlag, ISBN: 978-3-10-092551-0.
Vorsicht, Suchtgefahr!

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